P. Collmer u.a. (Hrsg.): Zerfall und Neuordnung

Cover
Titel
Zerfall und Neuordnung. Die «Wende» in Osteuropa von 1989/91


Herausgeber
Collmer, Peter; Emeliantseva Koller, Ekaterina; Perović, Jeronim
Reihe
Osteuropa in Geschichte und Gegenwart
Erschienen
Wien 2019: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
287 S.
von
Wolfgang Mueller, Institut für Osteuropäische Geschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften

Mit dem offenen Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 und dem Ableben Michail Gorbačëvs sechs Monate später ist die 1989/91 begonnene Epoche der Geschichte Osteuropas und des postsowjetischen Raumes zu Ende gegangen. Sie war eingeleitet vom Ende staatskommunistischer Herrschaft in Osteuropa und der Sowjetunion, vom Zerfall der von der UdSSR geschaffenen internationalen Organisationen und schliesslich der Sowjetunion selbst und geprägt vom Übergang Ostmitteleuropas zu parlamentarischer Demokratie, Marktwirtschaft und westlichen Organisationen.

Sowohl die «samtenen» Revolutionen, der Zerfall des «Ostblocks» und der Sowjetunion als auch die folgende Transformation beschäftigen seither die Forschung. Der Forschungsstand ist aufgrund der Erschliessung zahlreicher Archive gut und wird regelmässig in Editionen, Aufsätzen, Monographien und Handbüchern erweitert bzw. dokumentiert. Der vorliegende Band versammelt neun Beiträge zu Osteuropa und Russland sowie einen zur Schweiz. Bei den Autor*innen und der Widmungsträgerin, Nada Boškovska, handelt es sich mit einer Ausnahme um in der Schweiz tätige Personen.

Nach einer knappen Einleitung der Herausgeber*innen, welche die nach Jahren der europäischen Integration nach wie vor feststellbaren Differenzen zwischen Ost- und Westeuropa zum Ausgangspunkt nimmt und die Charakteristika der Epoche, Fragestellungen und die Inhalte des Bandes skizziert, folgen zwei interpretative Essays. Im ersten setzt Carsten Goehrke die «Wende» in ein Spannungsverhältnis zu strukturellen Faktoren. Anhand von Fallstudien zu Russland, Ungarn, Polen und den baltischen Republiken wird die Diversität der politischen Kulturen und damit auch der Ergebnisse der «Wende» deutlich: Während Goehrke sie im Baltikum als «gelungen» bezeichnet, hat sich in Russland – wieder – ein «repressives Regime» entwickelt. Die Gründe dafür seien nicht zuletzt in strukturellen Faktoren wie der schwachen Zivilgesellschaft Russlands, dem «patriarchalen Staatsverständnis der breiten Massen und der Übermacht weiterwirkender autoritärer Machtstrukturen» (S. 56) zu verorten. Dass Russland zur Zeit El’cins «vom Westen […] gedemütigt» worden sei (S. 25), erscheint bei nüchterner Betrachtung als vielleicht etwas zu wenig kritische Wiedergabe russischer Klagen.

Im zweiten Essay weist Pavel Kolář auf die nicht geradlinige Dynamik des Niederganges des Staatskommunismus hin und schlägt mehrere «globalhistorische Aspekte» zur Diskussion vor: die Bedeutung der kollektiven Erinnerung für 1989, die Rolle von Gewalt bzw. Gewaltlosigkeit, den Niedergang der europäischen Linken, den Aufstieg des Neoliberalismus und die Globalisierung.

Nach diesen interpretativen Kapiteln wendet sich Jeronim Perović der Debatte um die NATO-Osterweiterung zu – einer Debatte, die bis zuletzt von Russland zur Mobilisierung gegen einen NATO-Beitritt der Ukraine und zuletzt für seinen Krieg gegen das Land instrumentalisiert wurde. Während Erweiterungsgegner den westlichen «Bruch» eines «Nichterweiterungsversprechens» behaupteten, aber nie beweisen konnten, argumentierten Befürworter mit dem Selbstbestimmungsrecht und mit der real nicht vorhandenen Bedrohung Russlands durch den Westen. Etwas unterbelichtet bleibt dabei oft der Faktor der russischen Innenpolitik. So hatte Präsident El’cin den NATO-Beitritt Polens 1993 öffentlich akzeptiert, bevor er unter dem Druck seiner rechts- und linksradikalen Herausforderer zurückruderte. Ebenfalls in Rechnung zu stellen ist ferner die Komplexität des vom Westen ausgearbeiteten Gesamtpakets (OSZE, Partnership for Peace, NATO-Russland-Akte mit realen Sicherheitszusagen, Aufnahme Russlands in die G-7). Gerade aus Rücksicht auf Russland zögerte der Westen lange und oft, den Staaten Osteuropas reale Zusagen zu machen. Dieses Schema zieht sich von der westlichen Aufforderung an das Baltikum und die Ukraine, ihre Unabhängigkeit aufzuschieben, um nicht die Deutsche Einheit oder die Position Gorbačëvs zu gefährden, über das Zögern bei den NATO-Aufnahmerunden bis zur zweimaligen faktischen Ablehnung der NATO-Aufnahme der Ukraine durch Deutschland. Den Preis für dieses westliche Appeasement zahlt heute die Ukraine.

Eine erhellende Ergänzung zum innerrussischen Diskurs bietet Daniel Weiss mit seiner Analyse bis heute fortlebender Sowjetismen wie etwa der verbreiteten Bipolarität des Eigenen und Fremden, der Universalität des eigenen Standpunktes und der Partialität des gegnerischen oder auch der positiven Konnotation sowjetischer Akronyme und Kunstworte wie etwa «čekist» für Geheimpolizist. Auch vom angeblichen westlichen «Imperialismus» ist, wie Weiss anhand von Dumaprotokollen nachweist, in politischen Debatten der Ära Putin die Rede wie zur Zeit Brežnevs.

Carmen Scheide spürt der Bedeutung ukrainischer privater Vereinigungen ehemaliger Zwangsarbeiter in NS-Deutschland für die Entstehung einer Zivilgesellschaft in der Sowjetukraine nach. Ab 1986 rückten Fragen der ukrainischen Geschichte wie der Holodomor und der Holocaust nicht nur in den Blick der Sowjetforschung und der ukrainischen Zivilgesellschaft. Auch die Gründung der ukrainischen Nationalbewegung Ruch, der ersten Oppositions- und Unabhängigkeitsbewegung in der Sowjetukraine, 1989 und von Organisationen ehemaliger «Ostarbeiter/innen» spielte dabei eine Rolle.

In den anschliessenden vier Kapiteln widmet sich Peter Collmer der polnischen politischen Diskussion nach 1989 über den Runden Tisch, dessen Akzeptanz unter PiSWählern/ innen geringer ist als unter der Wählerschaft anderer Parteien, Nataša Mišković der Geschichtspolitik Titos, Julia Richers jener Viktor Orbáns und Ulrich Schmid der Analyse der «Telerevolution» in Rumänien. Die Debatte der sicherheitspolitischen Folgen des Endes des Kalten Krieges für die Schweiz (bis hin zur Abschaffung der Armee) steht im Zentrum von Christian Kollers abschliessenden Kapitels.

Der Band bietet Anlass, zu überlegen, ob man mit Blick auf die Sowjetunion und den «Ostblock» den in der westlichen Forschung heute oft in Nachahmung der Selbstbezeichnung angewandten, allgemeinen Begriff «Sozialismus» nicht durch den engeren des «Kommunismus» ersetzen sollte. Die historische Selbstbezeichnung folgte zum einen ideologischen Prämissen wie der marxistischen Vorstellung vom Sozialismus als Vorstufe des Kommunismus, die sich inzwischen als falsch erwiesen haben. Zum anderen verfolgte sie das taktische Ziel, den Gegensatz zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus zu verwischen und damit letzteren für die Linke akzeptabler zu machen – was im Westen nach 1968 durchaus funktionierte. Wenn man politische Systeme, die von linksextremen Parteien dominiert wurden und demokratische Konkurrenz sowie Privateigentum an Produktionsmitteln weitestgehend beseitigten bzw. zu beseitigen strebten, analytisch (wieder) als kommunistisch bezeichnet, ermöglicht das eine klare Differenzierung zwischen dem Sozialismus als Überbegriff sowie Sozialdemokratie und Kommunismus als seinen beiden wichtigsten Ausprägungen.

Insgesamt versammelt der Band eine Zusammenschau weiterführender Gedanken und Forschungsergebnisse exzellenter Kenner*innen des Raumes mit einem Fokus auf Erinnerungspolitik und politischer Kultur, die zeigen, dass die «Wende» als Forschungsthema noch lange nicht ausgeschöpft ist und weiterhin neue Fragestellungen und Erkenntnisse bietet.

Zitierweise:
Mueller, Wolfgang: Rezension zu: Collmer, Peter; Emeliantseva Koller, Ekaterina; Perović, Jeronim (Hg.): Zerfall und Neuordnung: Die «Wende» in Osteuropa von 1989/91, Wiens 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(1), 2023, S. 104-106. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00120>.

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